Stockholm-Syndrom im Glücksspiel: Wenn die Falle zur Komfortzone wird. Der Begriff „Stockholm-Syndrom“ beschreibt ursprünglich ein psychologisches Phänomen, bei dem Geiseln eine positive emotionale Bindung zu ihren Entführern entwickeln. Auch wenn die Situation im Glücksspiel völlig anders ist – niemand wird physisch festgehalten – lassen sich doch beunruhigende Parallelen ziehen, wenn man das Verhalten von Menschen mit problematischem Spielverhalten oder Glücksspielsucht betrachtet. Es entsteht eine paradoxe Beziehung zur Aktivität, die ihnen schadet: Sie fühlen sich gefangen, können aber nicht aufhören und entwickeln manchmal sogar eine Art „Zuneigung“ oder starke Abhängigkeit von der Quelle ihres Leidens.
Im Kontext des Glücksspiels bezeichnet das „Stockholm-Syndrom“ keine klinische Diagnose, sondern dient als Metapher, um die komplexe und oft widersprüchliche Beziehung zu beschreiben, die problematische Spieler zu ihrem Verhalten entwickeln. Sie wissen rational, dass das Spielen negative Konsequenzen hat – finanzielle Verluste, zerstörte Beziehungen, emotionaler Stress –, aber gleichzeitig fühlen sie sich emotional an das Spielen gebunden. Es bietet kurzfristige Flucht, Aufregung oder das trügerische Gefühl von Kontrolle, ähnlich wie eine Geisel sich an kleine Freundlichkeiten des Entführers klammern könnte.
Diese emotionale Bindung kann so stark werden, dass der Spieler das Glücksspiel trotz aller negativen Folgen verteidigt, rationalisiert oder sogar romantisiert. Die „Falle“ des Glücksspiels wird paradoxerweise zu einem vertrauten, wenn auch zerstörerischen, Ort – einer Art dysfunktionalen Komfortzone. Das Verlassen dieser Zone, also das Aufhören mit dem Spielen, erscheint dann beängstigend und schwierig, selbst wenn die Freiheit davon eigentlich erstrebenswert wäre.
Die Mechanismen der paradoxen Bindung
Wie kann es dazu kommen, dass jemand eine positive Assoziation zu etwas entwickelt, das ihm offensichtlich schadet? Mehrere psychologische Faktoren spielen hier zusammen.
H3: Intermittierende Verstärkung
Glücksspiel basiert auf dem Prinzip der intermittierenden Verstärkung: Belohnungen (Gewinne) treten unregelmäßig und unvorhersehbar auf. Dies ist eine der stärksten Formen der Verhaltensverstärkung. Der Spieler weiß nie, wann der nächste Gewinn kommt, aber die Möglichkeit besteht immer. Diese Ungewissheit erzeugt Spannung und hält den Spieler bei der Stange. Die seltenen, aber intensiven positiven Erlebnisse (große Gewinne) prägen sich tief ein und überstrahlen oft die häufigeren Verluste. Sie wirken wie „positive Gesten“ in einer ansonsten schädlichen Beziehung.
H3: Flucht und Bewältigung
Für viele Menschen mit problematischem Spielverhalten dient das Glücksspiel als Fluchtmechanismus. Es bietet eine temporäre Ablenkung von Stress, Sorgen, Langeweile, Einsamkeit oder anderen unangenehmen Gefühlen und Problemen im realen Leben. Während des Spielens können diese Probleme für eine Weile ausgeblendet werden. Das Spiel wird so zu einem vermeintlichen „Zufluchtsort“, auch wenn es langfristig die Probleme verschlimmert. Diese kurzfristige Erleichterung kann eine starke emotionale Bindung erzeugen.
H3: Kognitive Dissonanz und Rationalisierung
Wenn das eigene Verhalten (Spielen) im Widerspruch zu den eigenen Werten oder dem Wissen über die negativen Konsequenzen steht, entsteht kognitive Dissonanz – ein unangenehmer Spannungszustand. Um diese Dissonanz zu reduzieren, neigen Menschen dazu, ihr Verhalten zu rationalisieren oder ihre Einstellung anzupassen. Sie reden sich ein, dass sie die Kontrolle haben, dass der nächste große Gewinn alles lösen wird, oder dass das Spielen doch nicht so schlimm ist. Sie fangen an, das „Problem“ (Glücksspiel) zu verteidigen, um das eigene Selbstbild aufrechtzuerhalten.
H4: Die Illusion der Kontrolle
Wie bereits in anderen Kontexten erwähnt, entwickeln viele Spieler die Illusion, den Zufall beeinflussen zu können. Diese trügerische Kontrolle gibt ein Gefühl der Macht und Kompetenz, das im realen Leben vielleicht fehlt. Das Spiel wird zu einem Bereich, in dem man vermeintlich agieren und etwas bewirken kann, was die Bindung daran verstärkt, selbst wenn diese Kontrolle nur eine Illusion ist.
Merkmale des „Glücksspiel-Stockholm-Syndroms“
Auch wenn es keine formale Diagnose ist, lassen sich bestimmte Verhaltensweisen und Denkmuster beobachten, die an die Metapher erinnern.
H3: Verteidigung des Spielverhaltens
Betroffene verteidigen ihr Spielen gegenüber Kritik von Freunden oder Familie. Sie heben die positiven Aspekte hervor (die Spannung, die seltenen Gewinne, die Ablenkung) und spielen die negativen Konsequenzen herunter oder geben äußeren Umständen die Schuld.
H3: Minimierung der negativen Folgen
Die finanziellen Verluste, der emotionale Stress oder die sozialen Probleme werden bagatellisiert. „Es ist nicht so schlimm“, „Ich habe es unter Kontrolle“, „Andere geben ihr Geld für unnütze Dinge aus“ sind typische Aussagen.
H3: Schwierigkeiten, sich ein Leben ohne Glücksspiel vorzustellen
Trotz des Leidensdrucks fällt es den Betroffenen schwer, sich ein Leben ohne die Aufregung, die Flucht oder die Rituale des Glücksspiels vorzustellen. Der Gedanke an das Aufhören löst Angst, Leere oder Langeweile aus.
H4: Schuldzuweisungen an andere
Manchmal werden äußere Faktoren oder andere Personen für das eigene Spielproblem verantwortlich gemacht (z.B. Stress bei der Arbeit, Beziehungsprobleme, mangelnde Unterstützung), anstatt die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.
Der Ausweg aus der paradoxen Falle
Die Überwindung einer solchen tief verwurzelten, wenn auch destruktiven Bindung ist ein schwieriger Prozess, aber möglich.
H3: Anerkennung des Problems
Der erste und wichtigste Schritt ist die ehrliche Anerkennung, dass ein Problem besteht und dass das Glücksspiel mehr schadet als nützt. Dies erfordert oft das Durchbrechen der eigenen Rationalisierungen und Verteidigungen.
H3: Suche nach Unterstützung
Der Weg aus der Sucht ist selten allein zu bewältigen. Professionelle Hilfe durch Therapeuten, Suchtberatungsstellen oder Ärzte ist entscheidend. Auch Selbsthilfegruppen (wie die Anonymen Spieler) bieten wertvolle Unterstützung durch den Austausch mit anderen Betroffenen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
H3: Entwicklung alternativer Bewältigungsstrategien
Wenn Glücksspiel als Flucht oder zur Emotionsregulation diente, müssen gesündere Alternativen gefunden werden. Dies können Sport, Hobbys, soziale Aktivitäten, Entspannungstechniken oder das Erlernen neuer Fähigkeiten zur Stressbewältigung sein.
H4: Aufbau eines unterstützenden sozialen Netzes
Die Unterstützung durch verständnisvolle Freunde und Familie ist enorm wichtig. Manchmal müssen jedoch auch Beziehungen zu Menschen, die das Spielen fördern oder ermöglichen, überdacht oder abgebrochen werden.
H4: Rückfallprävention
Die Überwindung der Sucht ist ein langfristiger Prozess. Das Erkennen von persönlichen Auslösern (Situationen, Gefühle, Orte, die zum Spielen verleiten) und die Entwicklung von Strategien zum Umgang damit sind essenziell, um Rückfälle zu vermeiden.
Fazit: Die Befreiung aus der selbstgeschaffenen Gefangenschaft
Die Metapher des Stockholm-Syndroms im Glücksspiel verdeutlicht die oft irrationale und selbstzerstörerische Natur der Sucht. Sie zeigt auf, wie eine schädliche Aktivität zu einem zentralen, emotional besetzten Anker im Leben werden kann, von dem man sich nur schwer lösen kann. Die Mechanismen der intermittierenden Verstärkung, der Flucht und der kognitiven Dissonanz schaffen eine paradoxe Bindung, die den Ausstieg erschwert.
Die gute Nachricht ist jedoch, dass diese „Gefangenschaft“ durchbrochen werden kann. Durch Einsicht, Mut, professionelle Hilfe und die Unterstützung anderer können Betroffene lernen, die destruktive Beziehung zum Glücksspiel zu beenden und gesündere Wege zu finden, um mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen und Freude zu empfinden. Die Befreiung mag ein langer und steiniger Weg sein, aber sie führt zurück in ein selbstbestimmtes Leben jenseits der trügerischen Komfortzone der Sucht.